Der Mörder im Pfynwald

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ein Bürger aus Niedergampel, dessen Weib totkrank im Bette lag, ritt zum Wunderdoktor nach Siders, um Arznei zu holen. Er hatte sich bei dem Wundermann verspätet und trieb nun sein Pferd an, um vor Einbruch der Nacht noch durch den Pfynwald zu kommen. In diesem grossen unheimlichen Walde hauste ein Räuber, der die ärgsten Missetaten verübte. Während das Pferd munter die Strasse dahintrabte, gedachte er des Unholdes, der einmal ein herumirrendes Kind ermordet hatte. Der Räuber stellte dem Knäblein folgende Fragen: «Was ist schöner als der Tag?» Das Kind antwortete: «Der Mutter Blick!» «Was ist edler als Gold?» «Der Mutter Herz!» «Was ist süsser als Honig?» «Der Mutter Milch!» «Was ist weicher als Flaum?» «Der Mutter Schoss!» «Was ist stärker als der Tod?» «Der Mutter Liebe!» «Was ist härter als der Stein?» «Des Mörders Herz!» Da hat der Mörder das Kind mit solcher Gewalt an den Felsen geschleudert, dass derselbe sich spaltete und heute noch der Mörderstein genannt wird.

Den grossen, mit Moos, Flechten und Gras überwachsenen Block hatte der Mann aus Gampel hinter sich, und in einer halben Stunde musste er den jenseitigen Waldrand erreichen. Er glaubte schon, der Gefahr entronnen zu sein. Da sprang plötzlich eine wild aussehender Geselle mitten auf die Strasse und rief ihn an: «Guten Abend, Kamerad, was machst du?» Der Reiter erschrak sehr und glaubte sich verloren, denn er erkannte in dem Räuber, der den Pfynwald unsicher machte, seinen ehemaligen Kameraden Peter. Er hielt das Pferd an und erwiderte: «Mein Weib liegt totkrank zu Bette, und ich habe beim Kräutermann in Siders Medizin geholt!» Der andere sagte: «Kennst du deinen alten Kameraden nicht mehr, der zum Mörder geworden ist? Was sagen die Leute von mir? He?» Der Reitersmann erwiderte: «Ich bin in deiner Gewalt und kenne dich wohl, doch will ich die Wahrheit nicht verhehlen. Man sagt, wenn du nicht das Weite suchest, so seien deine Tage gezählt; man stellt dir nach, denn du mordest, was über die Strasse läuft, und du bist vogelfrei!» Der Mörder fuhr fort: «Du hast mir die Wahrheit gesagt und das gefällt mir, darum schenke ich dir das Leben. Komm mit in meine Höhle und sieh dir einmal die Behausung eines Mörders an!» Der andere sagte: «Lass mich gehen, meine Frau liegt schwer krank darnieder und erwartet mich zu jeder Stunde!» Der Mörder erwiderte: «Komm nur mit, es soll dir nichts geschehen, und auf eine halbe Stunde kommt es nicht an!»

Da bog er mit dem Räuber von der Strasse ab und ritt ins Innere des Waldes hinein. Bei einem Dornbusch hiess ihn Peter absteigen und das Pferd anbinden. Dann krochen sie in den kratzenden Strauch hinein, und nun öffnete sich ein schmaler Gang, der sich nach und nach weitete und in eine Höhle ausmündete, wo Peter einen Kienspahn anzündete und zu essen und zu trinken aufstellte. Der Bauer aus Gampel fühlte aber nicht grossen Appetit. Er sah sich in der Höhle um und erblickte in der Ecke einen Strohsack mit goldgestickten Decken darauf; der übrige Teil der geräumigen Höhle war fast ganz mit gestohlenem Gut angefüllt. Da lagen mehrere Fuder gebleichter Leinwand zu viereckigen Haufen getischt, daneben italienische Seidentücher in allen Farben und viele Fässer und Säcke. Von der Höhle führte ein Eisendraht über die Strasse, der, sobald ihn jemand berührte, ein Glöckchen in Bewegung setzte.

Der Räuber lud ihn ein, die Nacht hier zuzubringen, aber der Gampeler bedankte sich und verlangte nach Hause zu gehen. «So lade auf das Pferd, so viel es zu tragen vermag!» forderte ihn Peter auf, aber der Bauer sagte: «Ein andermal, jetzt muss ich selber auf das Pferd, damit ich einhole, was ich versäumt habe; meine Frau und meine Familie sind mir lieber als alle Kaufmannswaren. — Und du, mach dass du von hier fortkommst, denn hier wächst zu viel Galgenholz für dich!» Der Räuber sagte zum Abschied: «Ich bin' froh, dass du mich gewarnt hast, nun aber beeile dich, dass du fortkommst, denn jetzt bin ich keine Stunde mehr sicher, dass mich nicht die Mordlust anpackt. — So lange du mich siehst, reite langsam, denn wenn einer zu rasch geht, kommt die Wut über mich — nachher aber lass dem Pferd die Zügel. Wenn mich die Raserei anfällt, kann ich auch den Kameraden nicht schonen!»

Der Bauer folgte dem Rat, lud ein weniges aufs Pferd, um den Räuber nicht zu erzürnen und ritt zuerst langsam, dann in gestreck-tem Galopp, bis der Wald hinter ihm lag. Ganz in Schweiss gebadet langte er glücklich zu Hause an. Die Kinder umringten ihn und freuten sich über die Ankunft des Vaters, die Frau aber fragte ihn, warum er so spät komme und vor Schweiss triefe. Er kramte zuerst seine Medizinfläschchen und Salben aus und erzählte dann sein Abenteuerim Pfynwald. Die Frau erschrak, freute sich aber über die Rettung ihres Mannes und über das feine Tuch, das er mitgebracht hatte. Der Bäuerin wurde es bald wieder besser, und sie genas nach wenigen Wochen von ihren Leiden.

Einige Zeit darauf kam die Kunde nach Gampel, der Mörder sei aus dem Pfynwalde verschwunden und treibe sich in der Wildnis im untern Wallis herum. Später hiess es, er sei dort eingefangen und hingerichtet worden.Da erinnerte sich der Bürger aus Gampel der Räuberhöhle im Pfynwald und der darin verborgenen Schätze, der vielen schönen Leinwandballen und der farbigen Seidenstücke, die alle zugrunde gehen mussten, wenn sie niemand holte. Da sattelte er das Pferd und ritt hinunter in den Wald. Er fand die Stelle, wo ihn der Räuber angefallen und den Dornbusch, wo er das Pferd angebunden hatte, aber den Eingang zur Höhle konnte er trotz allem Suchen und Hineinkriechen in die Büsche nicht finden. Der Dorngestrüppe waren so viele, und sie sahen sich alle so gleich, dass er sich nicht mehr zurechtfinden konnte. Mit leeren Händen musste er heimkehren, und es ist bis zur heutigen Stunde niemand gelungen, die kostbaren Schätze zu heben.

Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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